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«Magic Moments»: die Perlenkette unserer Lebensgeschichte


In meinen Kommunikations- und Medientrainings geht es nicht ohne eine bestimmte Übung: die Anekdote. Ich fordere Klientinnen und Klienten auf, von einem Moment in ihrem Leben zu erzählen, der sie besonders berührt hat. Und ohne Ausnahme verblüffen die Menschen in dieser Übung nicht nur mit einer ureigenen Erzähltechnik, sie warten auch ohne Ausnahme mit einem eindrücklichen, oft sehr bewegenden Ereignis auf, das für sie prägend war. Während sie ihre Geschichte erzählen, geben Körpersprache, Stimme, Gestik und Mimik auf natürliche Weise – und wie in keiner Übung sonst – deutliche Hinweise auf ihre einzigartige Persönlichkeit und Authentizität.

 

So hatte ich über die Jahre das Privileg, Menschen aus allen Lebensbereichen bei der Erzählung ihrer bewegenden Geschichten über Liebe, Geburt, Leben und Tod zuzuhören – und darüber zu staunen. Wie eng diese prägenden Momente mit unserer Persönlichkeit verwoben sind, wurde mir in den vergangenen Jahren als Coach immer klarer. Und dass der Nutzen aus der bewussten Arbeit damit weit über die wertvollen Einsichten für unsere Auftrittskompetenz hinaus geht.

 

Wir erleben solche Momente nicht jeden Tag, aber bei einem Lebensrückblick sehen wir, dass es immer wieder solche Augenblicke gab. Und dass sie miteinander verwoben sind. Wie die Perlen auf einer Kette. Zusammen betrachtet, lassen sie etwas über den roten Faden unseres Leben erkennen.

 

In seiner Methode «Intensive Journal Program» beschreibt der Psychologe Ira Progoff (1921-1998) den Prozess, in dem wir uns mit den wichtigsten Meilensteinen unseres Lebens auseinandersetzen können, um Erkenntnisse über unsere Persönlichkeit oder eine spezifische Problemstellung zu gewinnen. «Wir gehen zurück in unsere Vergangenheit», sagt er, «um den Sprung nach vorne in unsere Zukunft zu ermöglichen.»

 

Wir zeichnen also intuitiv wichtige Momente oder Ereignisse mit einer Art Mind Map auf.  Jeder dieser Momente verbindet sich laut Progoff als Trittstein oder «Steppingstone» mit anderen Steinen (nicht unbedingt chronologisch). Als sogenannter «underground stream» zeigt er die Richtung und Motivation unseres Weges.

 

«In unserer Arbeit mit ‘Steppingstones’», so Progoff, «ziehen wir aus der ungeordneten Menge der Erfahrungen unseres Lebens die feinen verbindenden Fäden heraus, die unser Potential zu einer vollkommenen Entfaltung führen können.»

 

Was macht einen solchen «magic moment» aus? Diese Frage wird auch oftmals in den Trainings gestellt. Das wichtigste Merkmal: der Moment löst starke Emotionen aus. Nicht selten haben die Klientinnen und Klienten ein «slow-motion»-Gefühl, wie im Film – als würde ein unsichtbarer Regisseur die Szene plötzlich verlangsamen, damit wir merken, dass etwas Wichtiges geschehen wird. Oder dass die Geräusche und Hintergründe ausgeblendet werden und nur noch ein einziges Element im Bewusstsein Platz hat. Jedenfalls sind es unvergessliche Erlebnisse, die uns oftmals zu lebensverändernden Entscheidungen animieren.

 

Ich habe meine Kindheit in vier verschiedenen Ländern verbracht. Dies hat dazu beigetragen, dass ich erst mal zu keinem bestimmten Ort ein Gefühl der Geborgenheit oder Verwurzelung hatte. Als ich im Alter von 18 Jahren vor dem Studium meine Freunde und Familie in Deutschland besuchen wollte, reiste ich zunächst zu einer amerikanischen Freundin, die in London wohnte. Nach der gemeinsamen Besichtigung mehrerer Sehenswürdigkeiten, bummelte ich einmal allein in der Nähe der Westminster Abbey. Ich bog in eine der Gassen des Theater-Viertels – und plötzlich überwältigte mich ein unbekanntes Gefühl. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Es kam mir vor, als würden meine Füsse vom Boden willkommen geheissen. Alle Wege, Klänge, Gerüche und Gebäude kamen mir auf einmal vertraut und bekannt vor. Ich hatte mich in London wie in einen Menschen verliebt.

 

In diesem Moment wusste ich, dass ich dort leben wollte. Ich änderte schon bald all meine Pläne und zog ein halbes Jahr später nach London. So wurde England für die nächsten 20 Jahre meine Heimat.

 

In meiner Perlenkette waren es oft Ereignisse im Zusammenhang mit Orten, Ländern, Kulturen, die Prägendes auslösten – als wäre dies mein übergeordnetes Thema. Zum Teil entwickeln sich durch prägende Ereignisse auch Talente oder Stärken, die man sonst nicht unbedingt gesucht hätte – wie in meinem Fall zum Beispiel ‘Toleranz’ gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen. Die Arbeit mit unseren wichtigen Erfahrungen im Coaching führt oft dazu, dass wir Fähigkeiten in den Menschen entdecken, die vorher unbemerkt schlummerten.

 

Unsere Leben sind so vielfältig wie wir Menschen. Obwohl wir meinen, uns ziemlich gut zu kennen, überrascht und bereichert uns die bewusste Beleuchtung unserer Biografie mit neuen Einsichten. Dies inspiriert nicht nur, es stärkt auch unserer Vertrauen – das Vertrauen darauf, dass die Zusammenhänge unseres Lebens allesamt einen Sinn haben, und dass der «unterirdische Strom» schon weiss, wohin unsere Reise gehen muss.

 

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